Berlin - Choreografie einer Stadt

Katalogbeitrag zur Ausstellung "Berlin - Choreografie einer Stadt", Berlin 2011



Welcher Choreografie folgt Berlin? Folgt die Stadt überhaupt einer Tanzschrift, sind es nicht unterschiedliche, gegensätzliche Schrittfolgen, die hier stattfinden? Schaut man heute auf die Menschen und ihre Herkünfte, so ist klar, dass in Berlin so ziemlich alles getanzt wird - von der Polka bis zum Tango, von Pogo, Hiphop und Salsa, Jazz- und Balkandance bis hin zu afrikanischen und orientalischen Tänzen. Berlin ist eine internationale Stadt, Bürger aus 190 Staaten leben hier. Beim "Karneval der Kulturen" sieht und hört man ihre Tänze und Rhythmen. Etwas Charakteristisches wie den Tango Nuevo, den Astor Piazzolla in den 1970er Jahren in Buenos Aires kreierte, wird man heute weder für Berlin noch für einen andere Metropole ausmachen können. In einer globalisierten Welt wäre dies verwunderlich. Das war nicht immer so. Auf die Frage "Was tanzt Berlin? Welche Choreografie hat die Stadt?" antwortete mir der Experimentalmusiker Sven-Åke Johansson überzeugt, dass zu Berlin der Marsch gehört, so wie der Walzer zu Wien! Erstaunt wendete ich ein, Marschmusik sei doch preußisch-militärisch, diese Zeiten seien vorbei, doch Johansson belehrte mich, dass es zwar Militärmärsche gäbe, aber auch Hochzeits- und Trauermärsche und die von Paul Lincke seien Volksmusik gewesen, in ihrem Rhythmus höre man den Takt der frühen Industrialisierung Berlins, und überhaupt: "Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft ..." aus Linckes Operette "Frau Luna", 1899, dieser Marsch sei doch vor allem munter beschwingt, nicht düster martialisch. Er suche derzeit nach Marsch-Partituren, um sie neu zu interpretieren.
Auf meine Frage nach der Choreografie von Berlin äußerte die Organistin Annette Wiegand, das seien Foxtrott-, Swing- und Tangoschritte, wie sie seit den 1920er Jahren von Ballhaus-Kapellen, etwa von "Adolf Steinle und seinem Tanz-Streich Orchester", "Willy Berling und Solisten" oder in den 1940er Jahren von Horst Winter gespielt worden seien. Die internationale Musik hätte damals einen berlinerischen Charakter bekommen.
Was mir auffällt, Berlin ist eine langsame Stadt geworden. Verglichen mit dem Tempo von London, Tokio und New York geht es hier eher gemächlich zu, was ja durchaus Vorteile hat. Berlin ist nach der "Wende" auch recht ordentlich geworden. Da, wo bis 1994 in Mitte oder Prenzlauer Berg Kunstprojekte und Bars im Leerstand aus dem Boden schossen, findet man nun Einkaufzentren, Büros, Wohngebiete. Zu Recht kritisierte Philipp Johnson nach der Fertigstellung des Potsdamer Platzes ein bauliches Mittelmaß - nun hätte auch Berlin Malls und Bürotürme, wie man sie von Houston oder Denver kennt.
Derzeit beobachtet man den Trend zur Abwanderung von Künstlern aus den Innenstadtbereichen, dort werden Studiomieten zunehmend unerschwinglich. Auch erlebt man, gewiss nicht überall in der Stadt, die zunehmende Überalterung der Bevölkerung. Dies hat Folgen für das Tempo und die Dynamik Berlins. Man kann dies beklagen, aber die Sache hat bestimmt auch guten Seiten, Rastlosigkeit alleine stellt keinen Wert dar. Auch kommt es auf die Perspektive an, ein junger Mensch wird seine Umwelt anders wahrnehmen als ältere Zeitgenossen. Insofern leben wir immerzu in verschiedenen Städten, denn das Erlebnis von Stadt ist unterschiedlich, es ist abhängig von den Möglichkeiten, die sich Einzelnen und Gruppen eröffnen, die sie nutzen oder nicht, je nach Bildung, Einkommen und Mobilität. Eine einzige Stadt existiert von daher nicht, vielmehr gibt es Momente, Zustände, Orte, Räume, Chancen und Träume, die in einem urbanen Gebilde ermöglicht oder verhindert werden. Berlin ist nach wie vor ein Magnet für junge Künstler, die hier ihre Chancen wittern, die Stadt für eine Zeit bewohnen, Netze auswerfen und dabei Erfolg oder Mißerfolg haben. Zirka 40 KünstlerInnen ziehen pro Monat nach Berlin um. Ihnen erscheint Berlin als Ort des Neuen, der Freiheit, aber die Stadt ist mittlerweile auch ein überhitzter Kunststandort. Ohne Kontakte und Starthilfe ist es kompliziert, erfolgreich zu sein, aber alle wollen es doch einmal versuchen und tatsächlich findet man derzeit kaum eine Stadt auf der Welt mit solcher Anziehungskraft in Sachen Kunst.

Berlin lebt vom Mythos, von Geschichten und Geschichte, und von den Zukunftsträumen, die ihre Bewohner haben. War Berlin bis zum 2. Weltkrieg Deutschlands größte Industriemetropole, so ist die Stadt nun vor allem Ort für Politik, Kultur und Wissenschaft. Politik macht eine Stadt eher langweilig, Politiker leben oft in einer Art von Raumschiff. Die Kultur aber verschafft Berlin ein attraktives Prestige, vor allem deshalb möchte jeder sechste Bundesbürger hier wohnen, wie eine Umfrage belegt. Und so haben wohlhabende Münchener und Kölner in Berlin längst ihr Domizil, wo man am Wochenende feiert und auf Kultur macht. Dies muss nicht schlecht sein, denn so entstehen Initiativen, die von den klammen Bezirken kaum zu finanzieren sind. Und doch führen diese wie weitere Entwicklungen zur Verdrängung von denen, die hier lange siedeln, arbeiten und feiern. Im so genannten Kreuz-Kölln etwa entstehen Hutläden, wo Eckkneipen waren, eine Kanzlei im Gemüseladen, leider eröffnen allerorts Spielsaloons. Solche Choreografie nennt man Gentrifizierung. Noch einmal - welche Schritte vollzieht die Stadt? Es wirkt so, als seien es heute eher kurze und langsame Schritte. Was fehlt ist ein Rhythmuswechsel, der Erkenntnisschock, dass wir WeltbürgerInnen werden müssen, nicht nur Patrioten, dass wir erwachen aus dem elektronischen Biedermeier, damit beginnen kritische Fragen zu stellen und Debatten über die Zukunft der Stadt- und der Weltentwicklung anzuzetteln. Erst dann wird unsere Choreografie wieder dynamischer sein.

datePeter Funken, Berlin, Mai 2011.

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