von Peter Funken
Die Sache ist nicht ganz so einfach, denn sie betrifft die Situation von Kunst, Architektur und Gesellschaft der Gegenwart mit all ihren Widersprüchen und Vieldeutigkeiten: da ist die Stadt Berlin, die erst jüngst wieder zu einer Kunstmetropole wurde, da sind erfolgreiche Galeristen, über die in den Medien berichtet wird, so als seien sie neue Protagonisten in einer globalisierten, immer fort boomenden Ära des Kunstmarktes. Da sind die Künstlerinnen Ingeborg Lockemann und Elke Mohr, die an dem Marktgeschehen nur am Rande teilnehmen, die aber ihre eigene und die Situation ihrer Generation kritisch reflektieren und die gesellschaftliche Entwicklung mit künstlerischen Kommentaren begleiten. In ihrem Film werfen sie einen ironisch scharfen Blick auf die neue Gründerzeit Berlins, fast so, wie es Emile Zola und Karl Kraus auf die Gründerepochen in Paris und Wien taten. Und da ist last not least ein Ostberliner Randbezirk - gemeint ist Marzahn, der von Berlins boomender Mitte fast so weit entfernt scheint, wie die Erde vom Mond oder besagte kritische Künstlerinnen vom Marktgeschehen.
Marzahn, diese kulturelle Provinz in der Kunstmetropole Berlin, wirkt wie ein städtebauliches Relikt aus einer anderen Zeit und wird in dem Film von Lockemann und Mohr zum Ort ihrer, ein wenig schauerlichen Anschauung der Kunst- und Baukultur in Marzahn. In Marzahn stoßen die Künstlerinnen auf einen Ort der Kunst: die kommunale Galerie M. Diese städtische Galerie, übrigens die einzige die zu DDR-Zeiten erbaut wurde, liegt nach dem Neubau der Einkaufs- und Konsummall "Eastgate" plötzlich in deren Mitte und stellt in der Nachbarschaft diverser Restaurants und Einkaufsläden den kulturellen Hotspot dar. Die palastartige zackige Architektur der Galerie "M" löst Assoziationen zum expressionistischen Film aus. Ihr scheinbarer Dornröschenschlaf liegt im Kontrast zur gegenüberliegenden Shoppingmall und diente den Künstlerinnen als konspiratives Szenario, worin sie selbst in Beobachterrollen auftauchen.
In ihrem Film erkunden die Künstlerinnen Terrain und Angebot von Einkaufsmall und Galerie. Sie speisen im italienischen Restaurant, sie speisen im chinesischen Restaurant, sie suchen in der neu entstandenen Architektur nach Leben - nach 20 Uhr. Sie besuchen die Galerie, sie besuchen eine Ausstellungseröffnung. In den Restaurants sind sie nach 20 Uhr die einzigen Gäste, die neue Kaufrausch-Architektur scheint verlassen, fast schon unheimlich wirkt sie nach Ladenschluss, nur in der Galerie sind Menschen. Bei der Eröffnung wird musiziert, ein Dichter trägt Texte vor. Künstler sind anwesend, die meisten Besucher der Vernissage sind älteren Jahrgangs. Es scheint so, als würde der Kreis, der sich hier trifft, ein eingeschworener Kreis sein, einer, der sich kennt und zusammenhält. Mit dem boomenden Kunstzentrum der Berliner Mitte hat man in Marzahn nur wenig zu tun - das sind verschiedene Soziotope mit unterschiedlicher Öffentlichkeit, obwohl die Bilder, die in der Galerie M ausgestellt werden (zumindest die im Film gezeigten) mit denen in der erfolgreichen Galerie Eigen + Art, die man ebenfalls im Film sieht, durchaus Ähnlichkeiten aufweisen: in beiden Fällen geht es um Frauenkörper und bizarre Vorstellungen von Weiblichkeit.
Neben einer dokumentarischen Ebene besitzt der Film von Ingeborg Lockemann und Elke Mohr ironische Momente und Aspekte dunkler Phantastik, die den dokumentarischen Teil durchziehen und durchströmen. Die Künstlerinnen haben die eigenen Filmbilder immer wieder mit solchen aus Polanskis "Tanz der Vampire" oder Langs "Nosferatu" durchkreuzt. Das macht aus ihrem Film einen Kunstfilm der besonderen Art, eine gothic story der Gegenwart, denn unwillkürlich beginnt man Beziehungen zwischen Marzahn und Transsylvanien, dem Reich der Dunkelheit des Fürsten Dracula und dem Berliner Randbezirk herzustellen, obwohl beide Orte doch so weit von einander getrennt sind wie Erde und Mond oder die besagten kritischen Künstlerinnen vom Kunstmarkt.
Am Ende des Films - Lockemann und Mohr speisen diesmal in einer bekannten Imbisskette - sind beide bereits vampyristisch infiziert und vielleicht schon selber Mitwirkende im Marzahner Spuk - jedenfalls sieht man an ihren Hälsen die typischen Bissspuren.
In ihrem Film begegnen uns Metaphern, die ungewöhnlich sind und nachhaltig wirken, denn sie zeigen uns Mahrzahn als einen Ort des ganz Anderen und im Sinne einer ironischen Persiflage, als abseitiges Gelände, fast schon als ein Jenseits - dies zumindest betrachtet aus der Perspektive der boomenden Mitte Berlins.